STATIONS OF THE ELEVATED
Manfred Kirchheimer
STATIONS OF THE ELEVATED
Manfred Kirchheimer
1. Preis Athen Internationales Film Festival:
Die Graffitis auf den New Yorker U-Bahnen waren die Vorboten einer neuen Kunstform. Vorbei. Vergangenheit. Die New Yorker Bürgermeister Koch und Giuliani ließen unter hohem Kostenaufwand die U-Bahnen abwaschen und so imprägnieren, dass neue Graffitis nicht mehr haften. Manny Kirchheimers Film ist eine Dokumentation über unwiderbringlich verlorene Kunstwerke und Zeitgeschichte pur.
"Stations of the Elevated" ist eine lyrische, poetische Studie über die mit Graffiti übersäten Untergrundbahnen der New Yorker City. Sie enthällt sich des ästhetischen oder gesellschaftlichen Urteils über Graffitis, die von den einen als Kunst vermarktet und von den anderen als degenerierte Kritzeleien denunziert werden, vielmehr werden sie gezeigt als ein Aufschrei aus dem Ghetto.
Regie, Buch, Kamera und Schnitt
Manfred Kirchheimer Musik Charles Mingus Produktion streetwise films USA 1979, 46 Minuten
Der Film:
Langsam zieht der Titelschriftzug durchs Bild, wie ein Zug, der anfährt - und gibt den Blick frei auf eine Ansammlung länglicher Dächer aus der Vogelperspektive. Sie wirken wie schlafende Schlangen, abstrakt und grünbeige, sorgsam gegliedert wie ein konstruktivistisches Gemälde. Dann bewegt sich doch etwas. Aber erst, wenn das typische metallische Quietschen ertönt, weiß man, dass man es wirklich mit Zügen zu tun hat. Zaghaft setzt ein Schlagzeug ein, ein Lok pfeift, ein Basslauf kommt dazu, die Musik wird dichter, und endlich sieht man eine der Hochbahnen von der Seite mit bunten Graffitis übersät quer durchs Bild fahren, dann eine Zweite, eine Dritte, alle von rechts nach links, in einem ganz ungewöhnlichen Rhythmus. So beginnt "Stations of the Elevated". Wer sich auf diese ruhige, atmosphärische Dokumentation mit ihren vorbeiziehenden Zugbildern, spärlichen Geräuschen und der schwebenden Musik von Charles Minges einlässt, der ist schon nach wenigen Minuten gefangen von dieser eigentümlichen Welt. Die Franzosen sagen "Cinépoème" zu so einem Film, der ganz von seiner Stimmung lebt, ohne Kommentare auskommt, stellenweise wie ein Experimentalfilm wirkt, wie Malerei in Bewegung oder auch wie bebilderte Musik.
Nostalgische Gefühle kommen auf: Als Manfred Kirchheimer 1979 die Graffiti - Kunst der New Yorker Hochbahnen mit seiner Kamera festhielt, war sie schon im Verschwinden begriffen, weil der New Yorker Bürgermeister den Sprayern den Kampf angesagt hatte und die Bahnen so schnell säubern ließ, dass sie keine Chance mehr hatten. Auch die Jazz-Musik war 1979 ein Anachronismus, denn zur Kultur der schwarzen Sprayer gehörten Rap und Breakdance, nicht die so schöne einlullende Jazzmusik, ohne die der Film eine ganz andere Stimmung hätte. Kirchheimer hat auch bewusst die schönsten Züge gefilmt, mit Graffiti, die wirklich Kunstwerke sind wegen ihrer kantig ineinander verschlungenen Buchstaben, die man oft erst auf den zweiten Blick entziffern kann: "Pusher", "Slave", "Crime", "Hate", "Earth is Hell" ist da zu lesen. Anklagen an eine unmenschlich gewordene Welt. Hoffnungen spendende Worte wie "Heaven is Life" finden sich nur selten, meint doch der mehrdeutige Filmtitel nicht nur "Bahnhöfe der Hochbahn", sondern erinnert auch an die Stationen eines Kreuzweges. Aber eine Jesus - Figur taucht nicht auf, stattdessen fahren Charlie Brown und Mickey Maus auf dem Zug. Die gemalten Comic-Helden finden ihre Pendants in den ebenfalls comic-haften, aber viel bedrohlicher wirkenden Cowboys auf den riesigen Werbetafeln an den Bahnhöfen, auf Werbetafeln und Hauswänden entlang der Strecke.
Irgendwann fahren die Züge schneller, und in der entgegen gesetzten Richtung werden die Malereien aggressiver: Man sieht in die Mündung eines Revolvers, auf weiße Totenköpfe, auf gewaltige stählerne Brückenkonstruktionen, zwischen denen die Züge durchfahren, auf triste Hochhaussiedlungen aus rotem Backstein, vor denen schwarze Kids spielen, auf einen ausrangierten Panzer mitten auf der Wiese. Das sind die Momente, in denen man spürt, dass es Kirchheimer jenseits aller Ästhetik auch darum ging, das Leben im schwarzen Ghetto zu zeigen, das solche Graffitis entstehen ließ.
Mit "Stations of the Elevated" hat der 1931 in Saarbrücken geborene jüdische Dokumentarfilmer, der schon 1936 mit seinen Eltern auf der Flucht vor den Nazis in Amerika landete, seine zweifellos besten Film gedreht. Das kommentarlose Gegenüberstellen der illegalen Graffiti-Kunstwerke mit den gesellschaftlich anerkannten auf den Werbetafeln, die nachdenklich machenden Graffiti-Texte, die langsame Fahrt der Züge aus der überladenen Stadt hinaus in die ländlichen Vororte, die selbst wie Graffiti-Figuren wirkenden, meist nur als Schatten wartenden Menschen auf den Bahnsteigen - all diese meisterhaft fotografierten Szenen wirken heute, 20 Jahre später, da diese Subkultur in die moderne Kunstwelt integriert und verfremdet ist - noch eindringlicher als zu ihrer Entstehungszeit. Dass dieses Zeitzeugnis, das in Deutschland in den 80er Jahren nur auf Festivals zu sehen war, jetzt doch noch in die Kinos kommt, ist ein kleines Wunder, auch wegen seiner Dauer von nur 46 Minuten. Im Beiprogramm gibt es darum noch einen zweiten Film Kirchheimers, den 15-minütigen Kurzfilm "Claw" ("Klaue", 1968), eine ebenfalls wortlose Studie: Ein riesiger Abrissbagger verrichtet sein Werk wie ein böses Monster und bringt im Dienst der Stadtsanierung ein Haus zum Einsturz - fast so lyrisch und anklagend wie der Zugfilm. So kann man spät, aber vielleicht nicht zu spät, nach dem traditionell gemachten Kirchheimer-Dokumentarfilm "We Were So Beloved" (1985) über vor den Nazis geflohene Juden, die sich in den USA ansiedelten, auch einen sehr poetischen Dokumentarfilmer und sein schmales Werk kennen lernen: denn der Dozent der New Yorker School of Visual Art, der seit Mitte der 80er -Jahre regelmäßig beim Saarbrücker Max-Ophüls-Festival die Filme seiner Studenten zeigt, hat seit 1965 nur etwas mehr als eine Hand voll Filme finanzieren und drehen können. (Andrea Dittgen)
Die poetische Dokumentation über die kunstvollen Graffiti auf den New Yorker Hochbahnen im Jahr 1979 zeigt die verschwundenen Formen der illegalen Spontankunst mit tristen Alltagsbotschaften aus dem schwarzen Ghetto, aber auch Parallelen zu den legalen, oft aggressiven Werbetafeln am Wegesrand. Ein meisterhaft fotografiertes stimmungsvolles Zeitzeugnis, das sich jeden Kommentars enthält, aber durch die anachronistische Jazzmusik und den malerisch-musikalischen Rhythmus die Spraykunst auch nostalgisch verklärt. - Sehenswert (Filmdienst 20/00)