Manfred Kirchheimer und das

Filmfestival Max Ophüls Preis

 

Manfred Kirchheimer: Ophüls und ich

Quelle: OPUS, Ausgabe # 11, Januar/Februar 2009, 52-53.


„Ich bin ein Saarbrücker.“ – Das war die Botschaft, die ich beim Mannheimer Filmfestival des Jahres 1978 in Michael Beckerts Pressefach steckte. Dort wurde mein Kurzfilm „Short Circuit“ gezeigt, der die Spannungen zwischen Weißen und Schwarzen thematisierte.


Es war meine erste Reise nach Deutschland seit der Flucht meiner Familie in die Vereinigten Staaten im Jahre 1936, und ich war voller nervöser Unruhe. Wer war ein Nazi gewesen? Wer war Mitläufer, wer war Denunziant gewesen?


Bereits am nächsten Tag rief mich Beckert an, der damals als Filmjournalist bei der Saarbrücker Zeitung arbeitete. Das war übrigens die Zeitung, für die mein Vater Berthold Kirchheimer in den späten 20er und frühen 30er Jahren Karikaturen und Portraits von berühmten Künstlern und Politikern gezeichnet hatte, die zu Besuch in Saarbrücken weilten.



Beckert war schon zu seiner Arbeit als Filmredakteur nach Saarbrücken zurückgekehrt, aber er lud mich nach dorthin ein – eine Gelegenheit, meine Heimatstadt wiederzusehen, die ich nur allzu gerne annahm.

Bild oben: Max Ophüls

Bild links: Manfred Kirchheimer 1987 bei seiner Ankunft auf dem Saarbrücker Hauptbahnhof (Foto: Werner Wunderlich)

Als ich mir die Zeit nahm, über den Mannheimer Wochenmarkt zu gehen, entdeckte ich wunderschönes Obst und Gemüse, auch Käse, aber wenn ich den Kopf wandte, sah ich zugleich blutige Kaninchen an Haken hängen.


Die Straßen waren makellos sauber. Man hätte Tische darauf stellen können. Im Schaufenster einer Konditorei, an der ich vorbei kam, waren exquisite Petit Fours und Marzipanfiguren ausgestellt. Darunter gab es auch eine ganz Reihe von kleinen Jungen, die Goldtaler „schissen“. Es war eine merkwürdige Mischung aus Schönstem und Fürchterlichstem direkt nebeneinander. Sollte dies ein Symbol für deutschen Charakter sein?



Nun kam ich nach Saarbrücken und Michael Beckert fuhr mich an Stellen, von denen mir meine Eltern erzählt hatten: zum Rotenbühl, zu dem mich mein Kindermädchen immer mitgenommen hatte, zu unserem Haus in der Schmollerstraße 23, zu Stollwerk an der Ecke, zum ehemaligen Kaufhaus E. Weil & Söhne, später Weinhold (heute Peek & Cloppenburg), wo mein Vater als Werbechef gearbeitet hatte.


Schließlich lud er mich zu sich nach Hause ein. Was würde mich dort erwarten? Deutsch zu sein, bedeutete für mich förmlich sein (Beckert war es nicht), korrekt gekleidet sein, eine harte Sprechweise, pedantisch sein.


Ein Blick in das Zimmer seiner jungen Tochter genügte, all das zu zerstreuen: Es war ebenso unaufgeräumt wie das meiner Söhne zu Hause. Und die Flasche Jack Daniels – man bot mir mein Lieblingsentspannungsgetränk an – besiegelte diese Verbindung.



Ich traf Michael erneut 1981 in Mannheim und 1986 in Berlin. 1987 vermittelte er eine Retrospektive meiner Filme in der Saarbrücker Camera (dem damaligen Filmkunststudio Saarbrückens, das von Albrecht Stuby geleitet wurde, der zugleich Leiter des Max-Ophüls-Filmfestivals war). Albrecht Stuby lud mich bei dieser Gelegenheit ein, Mitglied der Jury zu werden.


Um den Kontakt aufrecht zu erhalten, lud mich Stuby nach dem Festival ein, auch zukünftig zum Max-Ophüls-Filmfestival nach Saarbrücken zu kommen. Und so komme ich seit 1989 jedes Jahr nach Saarbrücken und präsentiere ein Programm mit Studentenfilmen der School of Visual Arts New York, an der ich unterrichte.


War das ein Hochgenuss für mich! Damals war das Ophüls-Festival noch kleiner und wilder. Stuby war sozusagen unbezähmbar! Jede verrückte Idee, die ihm einfiel, wurde [sofort] umgesetzt. Elfriede – ich meine Ewald Blum, den äußerlich gelassenen Typen mit der Pfeife im Mund – entwarf die wahnsinnigsten Installationen für die verschiedenen Schauplätze von Lolas Bistro, dem abendlichen Festivaltreffpunkt. Die Bands und Akteure, die er engagierte, schienen mir jenseits des Erlaubten – so kam es mir als Endfünfziger jedenfalls vor. Es war eine ununterbrochene, berauschende Party – wobei die Filme wie eine Nebensache wirkten!


Natürlich war das nicht so! Oskar Lafontaine, der damalige Saarländische Ministerpräsident, spornte die Regisseure an; er gehörte ganz und gar dazu und überreichte auch die Preise mit Schwung und Witz, der mir unvergesslich bleibt. Und der damalige Saarbrücker Oberbürgermeister Hans-Jürgen Koebnick war mit ganzem Herzen – geistig und finanziell – dabei! Das Ganze wirkte auf mich wie eine jugendliche Eruption. Ich war auf vielen Festivals gewesen, aber keines war so frei und energiegeladen und intensiv wie das Max-Ophüls-Filmfestival!


Auch Friedl Heilbronner pflegte jedes Jahr zu kommen. Die damals schon über 80jährige Schwester Max Ophüls’, eine geborene Oppenheimer, war ebenso beschwingt wie alle anderen, blieb bis in die frühen Morgenstunden auf und diskutierte (sie liebte es zu reden) in Lolas Bistro über die Filme des Tages. Sie war eine große, aber völlig natürliche, bescheidene Dame.


Diese Menschen wurden alle meine Freunde – so wie die vielen anderen, die mich zu sich nach Hause einluden, so auch Christel und Manfred Schumacher: Christel ist die Tochter meines Kindermädchens Elsa, die mich im Kinderwagen den Rotenbühl hinaufschob.


Hier entdeckte ich den Deutschen in mir – welch eine Überraschung! Ich hatte mein Leben lang versucht, diesen Teil von mir zu verstecken. Meine Familie hatte es nicht erlaubt, auf den Straßen New Yorks Deutsch zu sprechen: Wir schämten uns als Deutsche nämlich und wollten als solche nicht erkannt werden. Deutsche Waren mussten also auch boykottiert werden. Und hier gab es nun in Saarbrücken wie auch in New York Würstchen mit Sauerkraut und zu jedem Gericht gehörten Kartoffeln. Neu für mich waren Kartoffelgerichte wie Kiechelcher und Dippelappes.


Bei meinen Einladungen gab es Serviettenringe und der Wein wurde in farbigen geschliffenen Kristallgläsern serviert. Ich dachte, dies sei jüdische Tradition – genauso wie Kristallschalen und silberne Messerbänkchen. Es gab die unvermeidliche Anrichte mit dem gleichen Nippes – allerdings ohne Kiddushbecher, Dredel und Havdoloh-Kästchen. Ich stellte fest, dass das alles deutsch, nicht jüdisch war. Da ich in einem deutsch-jüdischen Haushalt und in einer deutsch-jüdischen Nachbarschaft in New York aufgewachsen war, hatte ich angenommen, dass unsere Kultur in erster Linie jüdisch war. Jetzt stellte ich allmählich fest, wie deutsch ich war!


Das war sehr erhebend und erheiternd – genauso wie die Tatsache, dass diese wunderbaren Menschen, die meine Freunde geworden waren, die nach dem Krieg geboren wurden, meistens Linksliberale oder echte Linke und häufig auch Schwule (ebenfalls von den Nazis Verfolgte) waren, nun meine zweite „Familie“ wurden und ich mich zu einem echten „Saarbrücker“ entwickelte.


Man sagt oft, Saarbrücken sei keine echt deutsche Stadt. Zu Hause heißt es auch, „New York ist nicht Amerika“. Ich aber habe in Saarbrücken und beim Max-Ophüls-Festival eine neue Heimat gefunden.


1987 bot mir ein Journalist eine Fahrt zu einem französischen Essen in Forbach an. Damals war der Grenzübertritt ohne Visum noch etwas schwierig. Am Grenzübergang wurden wir aufgehalten, man sagte uns aber augenzwinkernd, wir könnten auch auf andere Weise an unser Ziel gelangen, und zwar an einem nicht so offiziellen Grenzübergang wie der Goldenen Bremm. Einige Tage später schlug eine Freundin einen Ausflug nach Nancy vor. Auf Grund meiner Erfahrungen mit dem Ausflug nach Forbach erkundigte sie sich wegen eines Visums beim Saarbrücker Tourismusamt und erhielt die Auskunft: „Na, ich bin mir nicht sicher! Vor einigen Tagen haben sie einen berühmten Regisseur aus Amerika nicht reinlassen wollen.“


In New York kennt mich kein Mensch, aber beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken werden mir jedes Jahr Andy Warhols fünfzehn Minuten Berühmtheit zuteil – und das finde ich großartig!